Überblick

Probleme beim Mathematiklernen sind häufig durch das Fehlen grundlegender Vorstellungen zu Zahlen, Rechenoperationen und -strategien begründet. Zwar sind Lernende mit Rechenschwierigkeiten, denen es an solchen Vorstellungen fehlt, häufig in der Lage, bestimmte Verfahren anwenden zu können, allerdings verhindern fehlende Vorstellungen, dass sie auch verstehen, warum sie gerade so vorgehen können und dürfen, wie sie es tun.

Um Kinder dabei zu unterstützen, Vorstellungen aufbauen zu können, hat sich das Vierphasenmodell (vgl. Schipper, Wartha & von Schroeders; Wartha & Schulz 2013) bewährt. Der Grundgedanke dieses Modells besteht darin, konkrete Materialhandlungen gedanklich vollziehen zu können. Anfängliche Handlungen am Material werden nach und nach zugunsten mentaler Vorstellungen abgelöst. Die nachstehende Abbildung beschreibt die Aktivitäten der einzelnen Phasen des Modells allgemein.

Vierphasenmodell.png
Das Vierphasenmodell (Abbildung aus Wartha & Schulz, 2011, S. 11)

Im weiteren Verlauf dieser Seite wird gezeigt, wie der Aufbau von Vorstellungen anhand des Vierphasenmodells gelingen kann. Hierzu wird exemplarisch die nicht-zählende Zahldarstellung am Zwanzigerfeld fokussiert. Es wird aufgezeigt, wie Kinder auf dem Weg von der konkreten Zahldarstellung mit Plättchen am Zwanzigerfeld zum gedanklichen Handeln im Unterricht unterstützt werden können.

Phase 1:

Das Kind handelt am geeigneten Material

In Phase 1 operiert das Kind mit Material, das für die aufzubauende Vorstellung geeignet erscheint. Für die nicht-zählende Zahldarstellung können hierzu das Zwanzigerfeld sowie Plättchen herangezogen werden. Alternativ wäre es jedoch auch denkbar, den Rechenrahmen heranzuziehen. Je nach dem, welches Arbeitsmittel genutzt wird, sind passende nicht-zählende Handlungen vom Kind vorzunehmen. So wäre es für die Darstellung der Zahl 17 zentral, Plättchen nicht nur einzeln nacheinander zu legen. Vielmehr ist es wichtig, auch Zehner- und Fünferstreifen zu verwenden, um die Beziehungen der darzustellenden Zahl zur Fünf und zur Zehn herauszustellen.

Ein mögliches Vorgehen kann somit darin bestehen, dass Lernende zunächst einen Zehnerstreifen, anschließend einen Fünferstreifen und letztlich zwei einzelne Plättchen hinzufügen.
Zentral ist dabei, dass die Materialhandlungen nicht nur eigenständig vollzogen, sondern parallel auch möglichst exakt versprachlicht werden. Dies ist vor allem deshalb wichtig, da präzise sprachliche Beschreibungen in den folgenden Phasen des Modells ein notwendiges Element werden. Für obiges Beispiel ist es denkbar, dass Handlung und Notation wie folgt ablaufen:

 

Obiges Procedere kann mit verschiedenen Zahlen vorgenommen werden. Sofern Lernende die darzustellenden Zahlen nicht-zählend am Zwanzigerfeld darstellen und eine gewisse Routine der Abläufe festzustellen ist, kann der Übergang in Phase 2 erfolgen.

Phase 2:

Das Kind beschreibt die Materialhandlung mit Blick auf das Material

In der zweiten Phase wird die Materialhandlung nicht – wie noch in Phase 1 – vom Lernenden selbst durchgeführt. Zentraler Gegenstand dieser Phase ist es, dass die zuvor durchgeführte Materialhandlung nur noch versprachlicht wird. So ist es die Aufgabe eines Kindes in dieser Phase, einer anderen Person (z. B. einer Förderlehrkraft oder einem Mitschüler bzw. einer Mitschülerin) die durchzuführenden Materialhandlungen zu diktieren. Dabei hat das Kind nicht nur die Aufgabe, zu beschreiben, wie sein Gegenüber handeln soll. Auch ist es die Aufgabe, die Materialhandlungen zu überprüfen, indem selbige aufmerksam beobachtet werden.
 
Ein möglicher Verlauf dieser Phase – erneut am Beispiel der Zahldarstellung der 17 illustriert – könnte wie folgt aussehen: 

 

Erfahrungen zum Einsatz des Vierphasenmodells in Partnerarbeit haben gezeigt, dass dasjenige Kind, welches in dieser Phase die Handlung durchführt, teilweise dazu neigen kann, Handlungen durchzuführen, die es selbst mit dem jeweiligen Arbeitsauftrag verbindet. Die versprachlichten Anweisungen des Partnerkindes fließen nicht immer so ein, wie es sein sollte. In diesem Zusammenhang hat es sich als gewinnbringend herausgestellt, dass die Aufgabe bzw. der Arbeitsauftrag lediglich dem Kind präsentiert wird, welches die Handlungen diktieren soll. Dem handelnden Kind wird selbiger erst nach dem Darstellungsprozess vorgelegt, um eine Überprüfung vorzunehmen. Auf diese Weise kann eine Orientierung der Handlungen mit den Versprachlichungen des Partnerkindes hergestellt werden.  

Phase 3:

Das Kind beschreibt die Materialhandlung ohne Sicht auf das Material

Die darauffolgende dritte Phase stimmt strukturell mit der Phase 2 überein. Auch hier ist es die Aufgabe des Lernenden, die in Phase 1 eigenständig durchgeführte Materialhandlung exakt zu diktieren und von einer anderen Person durchführen zu lassen. Jedoch besteht zwischen den Phasen 2 und 3 ein zentraler Unterschied, den es zu beachten gilt: Während in Phase 2 noch die Sicht auf die Materialhandlung des Gegenübers möglich ist, hat das Kind in Phase 3 keine Möglichkeit mehr, die Materialhandlung der zweiten Person direkt zu beobachten. Dies kann entweder durch das Verbinden der Augen erreicht werden oder man stellt einfach einen Sichtschirm zwischen den Kindern auf.  Auf diese Weise wird das diktierende Kind angeregt oder gar gezwungen, den Ablauf der Materialhandlung ausschließlich in der Vorstellung nachzuvollziehen. Dadurch gehen die Kinder einen bedeutenden Schritt weg von der konkreten Materialhandlung in Richtung gedanklicher Operationen. Das Kind muss zu jedem Zeitpunkt sowohl die bereits durchgeführten und noch zu vollziehenden Materialhandlungen als auch die jeweils gegenwärtige ikonische Darstellung in der Vorstellung abrufen können.

 

Phase 4:

Das Kind arbeitet auf symbolischer Ebene, übt und automatisiert.

Abschließend wird auf den handelnden Umgang mit Material verzichtet, indem Lernende lediglich auf symbolischer Ebene üben und automatisieren. Die Tatsache, dass die Schülerinnen und Schüler das Material nicht mehr für den Zahldarstellungsprozess nutzen, bedeutet keineswegs, dass Handlungen in dieser abschließenden Phase des Vierphasenmodells irrelevant sind. Die in den Phasen 1 bis 3 selbst durchgeführten oder diktierten Materialhandlungen werden nur noch in der Vorstellung vollzogen und geprüft. Das Kernelement dieser Phase ist somit, die Kinder (verbal- oder nonverbal-symbolisch dargestellte) Aufgaben auf der Grundlage verinnerlichter Handlungen gedanklich lösen zu lassen.

 

Es ist natürlich das Ziel, Kinder von konkreten Handlungen am Material zu lösen. Allerdings sollen sie auch noch in späteren Phasen dazu angeregt werden, diese Materialhandlungen gedanklich zu vollziehen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass das Vierphasenmodell keineswegs als ein Stufenmodell zu verstehen ist. Die Phasen werden also nicht zwingend nacheinander durchgeführt. Für den Fall, dass Kinder bspw. offenkundig Schwierigkeiten in Phase 3 dabei haben, die Materialhandlungen ohne Sicht auf Selbiges exakt zu diktieren, kann eine erneute Durchführung der zweiten Phase hilfreich sein. Genauso kann auch ein Rückschritt von der vierten in die dritte Phase sinnvoll sein. Es darf nicht das primäre Ziel des unterrichtlichen Einsatzes des Vierphasenmodells sein, dieses schnellstmöglich ‚abzuarbeiten’. Wesentlich sollte sein, dass Kinder tragfähige Vorstellungsbilder entwickeln. Manchen Kindern wird dies relativ schnell und ohne Rückschritte in bereits bearbeitete Phasen des Vierphasenmodells gelingen. Andere Kinder werden genau dies benötigen, was ihnen keineswegs verwehrt werden darf:

„Der Weg der Verinnerlichung führt nie nur vom Material weg, sondern immer wieder auf das Material zurück,
um am Material zu erklären, etwas darzustellen oder zu argumentieren.“

(Häsel-Weide et al., 2014, S. 114)

Weitere Anwendungsbereiche des Vierphasenmodells

Auf dieser Seite wurde beispielhaft aufgezeigt, wie der Aufbau von Vorstellungen zur nicht-zählenden Zahldarstellung am Zwanzigerfeld anhand des Vierphasenmodells gelingen kann. An dieser Stelle sei jedoch auch auf weitere Möglichkeiten des Vorstellungsaufbaus verwiesen. Auf analoge Weise können weitere Vorstellungen, wie zu verschiedenen Operationen oder Rechenstrategien, aufgebaut werden. So liegt bspw. jeder Rechenstrategie eine konkrete Materialhandlung zu Grunde, die in Phase 1 von den Kindern selbst durchgeführt, in Phase 2 mit Sicht und in Phase 3 ohne Sicht auf das Material diktiert wird, um auf der Grundlage der entwickelten mentalen Bilder Aufgaben auf symbolischer Ebene verständnisbasiert lösen zu können. Auf die Materialhandlungen können die Kinder in der Vorstellung zur Lösung der Aufgaben zurückgreifen.

In diesem Sinne ist das Vierphasenmodell nicht zum Vorstellungsaufbau vereinzelter Aspekte des Mathematiklernens zu verstehen. Es kann als Orientierungsrahmen für einen Mathematikunterricht dienen, der großen Wert auf die Entwicklung mentaler Bilder legt.

Auch für die Gestaltung inklusiven Mathematikunterrichts kann das Vierphasenmodell ein hilfreicher Orientierungsrahmen sein. Auf der Webseite des Projekts 'Mathe inklusiv mit PIKAS' finden Sie zwei Seiten, bei denen das Vierphasenmodell Verwendung findet:
    -  Diagnosegespräche und Fördergespräche
    -  Diagnoseaufgaben und Förderaufgaben
Auf den Seiten finden Sie unter anderem auch Karten aus der PIKAS-MI-Mathe-Kartei, die sich mit der Darstellung von Zahlen am Zwanzigerfeld sowie am Rechenrahmen befassen. Die Karten finden Sie hier:
Zahlen mit dem Zwanzigerfeld darstellen
Zahlen mit dem Rechenrahmen darstellen